- Medizinnobelpreis 1986: Stanley Cohen — Rita Levi-Montalcini
- Medizinnobelpreis 1986: Stanley Cohen — Rita Levi-MontalciniDie Wissenschaftler wurden für die Entdeckung hormonähnlicher Botenstoffe ausgezeichnet, die das Wachstum von Nervenzellen und Hautgewebe fördern.BiografienStanley Cohen, * New York 17. 11. 1922; 1953-59 Associate Professor in St. Louis, 1959-67 Associate Professor of Biochemistry in Nashville, ab 1967 dort Full Professor of Biochemistry; identifizierte den Nervenwachstumsfaktor (NGF) als Eiweißstoff und entdeckte den Hautwachstumsfaktor (EGF).Rita Levi-Montalcini, * Turin 22. 4. 1909; 1951-58 Associate Professor in St. Louis, 1958-61 dort Full Professor, 1969-79 Direktorin des Laboratoriums für Zellbiologie des C.N.R. Rom; entdeckte den Nervenwachstumsfaktor (NGF) und leistete Pionierarbeit bei der Aufklärung der Entwicklung des Nervensystems.Würdigung der preisgekrönten LeistungWären wir nicht mit vielen Milliarden von Nervenzellen ausgerüstet, so könnten wir weder atmen noch laufen noch denken. Die Nervenzellen in Gehirn, Rückenmark und Organen bilden ein kompliziertes Kommunikationsnetz, in dem Informationen empfangen, gespeichert und an Muskel- und Sinneszellen weitergegeben werden. Pionierarbeit zum Verständnis dieser Signalwege haben die italienisch-amerikanische Zellbiologin Rita Levi-Montalcini und der amerikanische Biochemiker Stanley Cohen in langjähriger Grundlagenforschung geleistet. Sie entdeckten hormonähnliche Proteine, die als Botenstoffe physiologische Reize von den Nervenzellen an die entsprechenden Körperzellen übermitteln und deren Entwicklung und Differenzierung steuern.»Wie Strahlen aus einer Sonne«Lange Jahre hatten Wissenschaftler vergeblich versucht, die stoffliche Basis, die Nervenzellen während der Entwicklung in ihr Zielorgan wachsen lässt, am lebenden Tier zu untersuchen. Die entscheidende Wende brachte Rita Levi-Montalcini. Nach ihrem Examen an der Universität Turin konnte die junge Medizinerin wegen ihrer jüdischen Herkunft nur noch privat forschen. In einem bescheidenen Labor, das in ihrem Schlafzimmer untergebracht war, verpflanzte sie Krebszellen von Mäusen in Hühnerembryonen und sah bald, dass das embryonale Nervengewebe übermäßig wuchs. Ihre Mutmaßungen, dass vom Tumor eine Substanz ausging, die das Wachstum der Nervenzellen förderte, las der Amerikaner Victor Hamburger in einer belgischen Fachzeitschrift. 1947 lud er die Forscherin in sein Labor nach St. Louis ein.Dort analysierte sie ab 1952 das Wachstum von Nervenzellen. Sie entnahm aus jungen Hühnerembryonen periphere Nerven, umgab diese in der Kulturschale im Abstand von einigen Millimetern mit Gewebestückchen aus einem Bindegewebstumor der Maus und bettete das Arrangement in ein Nährmedium ein. Nach wenigen Tagen sprossen »aus dem Nerv zahlreiche Nervenzellfortsätze wie die Strahlen aus einer Sonne hervor«. Levi-Montalcini folgerte, dass es ein lösliches Molekül sein musste, das von den Bindegewebszellen als Entwicklunghilfe ausgesandt wurde und die Nervenzellen zum Längenwachstum und zur Verzweigung anregte.1954 erhielt die von Rita Levi-Montalcini gefundene Substanz den Namen »Nerve Growth Factor« (NGF) (englisch; Nervenwachstumsfaktor). Ihre chemische Charakterisierung übernahm in St. Louis Stanley Cohen. Der junge Biochemiker reinigte und isolierte das Wachstum fördernde Molekül. Um herauszufinden, ob es sich bei dem gesuchten Stoff um ein Eiweißmolekül oder um eine Nucleinsäure, also um einen Teil der Erbsubstanz, handelte, mischte er 1956 einen Mäusetumorextrakt mit Schlangengift. Dessen Enzym Phosphodiestrase zerstört Nucleinsäuren, lässt Eiweiße aber intakt. Die Schlangengift-Behandlung verstärkte die Wirkung des Tumorextrakts und kurbelte das Nervenzellenwachstum zusätzlich an. Dies ließ auf Eiweiße als Träger des Nervenwachstumsfaktors schließen.Wenig später entdeckte Cohen in der Speicheldrüse männlicher Mäuse eine zehnmal so ergiebige Quelle für den Wachstumsfaktor. Damit ließ sich das wachstumsfördernde Eiweiß in reiner Form isolieren. 1969 gelang die Reihenfolge der Bestimmung seiner Aminosäuren.Der Nervenwachstumsfaktor kommt bei allen Wirbeltieren vor. Viele Zelltypen bilden bei ihrer Entwicklung NGF. Dadurch stimulieren sie den Auswuchs von Nervenfasern. Diese Fasern wachsen weiter, bis sie die NGF aussendende Körperzelle erreichen. An den Kontaktstellen bilden sich so genannte Synapsen, das heißt Schalter, mit deren Hilfe Nervensignale chemisch auf Körperzellen wie beispielsweise auf Muskelzellen übertragen werden. Wo der Wachstumsfaktor fehlt, stockt beim Embryo die Einwanderung von Nervenzellen in bestimmte Organe. Umgekehrt sterben die im embryonalen Körper zahlreich vorhandenen Nervenzellen ab, wenn sie kein Signal in Form von NGF erhalten. Der Botenstoff fördert also nicht nur die Ausbreitung bestimmter peripherer Nervenzellen, sondern ist auch für das Überleben dieser Zellen unentbehrlich.Medizinische HoffnungenBei der Reinigung von NGF aus den Speicheldrüsen der Maus entdeckte Stanley Cohen 1962 einen weiteren, wichtigen Botenstoff, der nicht die Ausbreitung von Nerven begünstigt, sondern bei neugeborenen Mäusen zu einem frühzeitigen Öffnen der Augenlider führt. Dieser Stoff regt Hautzellen zur Teilung und Verhornung an und beschleunigt damit die Wundheilung. Cohen nannte diesen wachstumsfördernden Stoff »Epidermal Growth Factor« (EGF) (englisch; Hautwachstumsfaktor).Die Entdeckung förderte die Untersuchung der Mechanismen, die die Neubildung, die Differenzierung und den Tod von Zellen sowohl im embryonalen Stadium wie auch bei Erwachsenen steuern. Inzwischen sind weitere Wachstumsfaktoren entdeckt worden, darunter solche für Blutplasma, Bindegewebszellen, Lymphozyten und Tumorzellen. Sämtliche Wachstumsfaktoren beeinflussen innerhalb komplexer Regelkreise die Entwicklung und Ausformung von Zellen in ähnlicher Weise wie Hormone.Das Nobelkomitee begründete den Preis an Levi-Montalcini und Cohen mit dem großen grundlagenwissenschaftlichen und praktischen Interesse ihrer Erkenntnisse. »Als direkte Folge davon haben wir jetzt ein größeres Verständnis für die Ursachen gewisser Krankheitsprozesse, zum Beispiel das Entstehen von Missbildungen, erblichen Defekten, degenerativen Veränderungen wie seniler Demenz, Defekten bei der Heilung von Gewebeschäden und nicht zuletzt Tumorkrankheiten.«Die mit dem Nobelpreis belohnten Entdeckungen waren zum Zeitpunkt ihrer Würdigung in Stockholm mehr als zwei Jahrzehnte alt. Vor allem die intensiven Bemühungen, die Entstehung von Krebs aufzuklären, ließen die Wachstumsfaktoren damals in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Die medizinischen Hoffnungen auf neue Behandlungsmethoden und Medikamente haben sich jedoch nicht erfüllt. Weder bei Karzinomen noch bei der Alzheimerkrankheit, unfallbedingten Rückenmarksverletzungen oder multipler Sklerose konnten Fortschritte in der Therapie erzielt werden. Lediglich in der Augenheilkunde gelang es, den Wirkungsmechanismus des Hautwachstumsfaktors in einem Medikament zur Anwendung zu bringen. Ansonsten überwiegt der theoretische Erkenntnisgewinn bis heute die praktischen Anwendungsmöglichkeiten der Wachstumsfaktoren.U. Fölsing
Universal-Lexikon. 2012.